21 Sätze, mit denen Sie einen UXler zur Weißglut bringen

Wir lieben unseren Job und unsere Mission, die Welt durch UX ein kleines bisschen besser zu machen. Manchmal müssen aber auch wir als serviceorientierter UX-Dienstleister im Geschäftsalltag tief durchatmen, um ein Lächeln auf den Lippen behalten zu können. In 21 Jahren eresult haben sich ein paar Sätze angesammelt, die uns zur Weißglut bringen. Vielleicht erkennen Sie sich als UX Professional – ganz gleich ob inhouse, extern beauftragt oder als Freelancer – in ein paar Punkten wieder (dann hoffentlich mit einem Schmunzeln im Gesicht :) ). 

1. „Den Zugang zum Testgegenstand können wir Ihnen leider (noch) nicht geben.“

Nicht immer werden Produkte getestet, die für jedermann zugänglich sind. Viele Kunden lassen Dummys verproben, die teilweise beim Kickoff noch nicht vorliegen und/oder an denen bis zum Testtag gefeilt wird. Wir haben als erfahrene UX-Experten eine große Vorstellungskraft – diese ist aber leider auch nicht unendlich. Je mehr Informationen uns über den Testgegenstand (Untersuchungsziel, Hypothesen, Limitationen, Kontext, …) vorliegen, desto detaillierter und genauer kann das ganze Testdesign auf diesen abgestimmt werden.

2. „Wir haben noch schnell was am Prototyp geändert.“

Ob kurzfristig vor dem Nutzertest, zwischen zwei Probanden oder gar während des laufenden Interviews: Je spontaner und kurzfristiger diese Änderungen vorgenommen werden, desto schwieriger wird es für uns als UX Researcher. Wir entscheiden im Interview in kürzester Zeit und auf das Verhalten des Probanden abgestimmt, welche Fragen wir als nächstes stellen. Ungeplantes irritiert, kostet uns Energie und birgt für das Testdesign und die Methodik Herausforderungen: Wie sollen wir Findings aus Varianten bewerten, die nur von einem oder zwei Probanden gesehen wurden? Die Gefahr ist groß, dass Einzelmeinungen zu hoch priorisiert werden. Optimierungen während des Tests sind durchaus im Sinne des iterativen Vorgehens, allerdings sollte dabei einiges bedacht werden. Daher ist unsere klare Empfehlung: Stellen Sie sicher, dass jede Variante an mindestens fünf Probanden verprobt wird und Änderungen immer gemeinsam mit dem UX Team getroffen werden.

3. „Ich habe schon die Lösung und bereits ein Ticket dafür erstellt.“

Anpacken ist gut. Aber Geduld! Vorsicht bei Findings nach den ersten Interviews. Hier sollten keine voreiligen Schlüsse gezogen und direkt in Lösungen gedacht werden. Lassen Sie uns den weiteren Testtag auf die Interviews konzentrieren, beobachtete Probleme sammeln, um im ersten Schritt die Probleme zu identifizieren und die dafür verantwortliche Ursache klären. Erst ganz am Schluss – im letzten Schritt, wenn alle Findings vorliegen, werden diese bewertet und für das weitere Vorgehen priorisiert.

4. „Sind die Ergebnisse des User Testings signifikant?“

Nein – darauf kommt es aber auch nicht an! Für statistische Auswertungen ist die kleine Anzahl an Probanden natürlich unbrauchbar. Das ist aber gar nicht notwendig. Mit fünf bis acht Probanden werden hier schon ca. 80 % der Usability-Probleme aufgedeckt. Bei Usability-Tests bedienen wir uns qualitativer Methoden – der Fokus liegt klar auf der Identifikation von Nutzungsproblemen und nicht wie wahrscheinlich es ist, dass diese auftreten, oder ob es Unterschiede zwischen Nutzergruppen gibt. Dieses Vorgehen ist methodisch abgesichert, praxisorientiert und effizient, was Kosten und Nutzen angeht. Detaillierte Informationen sind u. a. unter diesem Link zu finden: https://www.nngroup.com/articles/why-you-only-need-to-test-with-5-users/

Eine in der Methodik nicht vorhandene, statistische Signifikanz ist übrigens auch der Grund, warum wir unsere Usability Findings nicht mit quantitativen Angaben, wie z. B. „70 % der Probanden“, beschreiben. Denn dies kann eine nicht gegebene Validität bzw. Qualität der Ergebnisse suggerieren.

5. „Heute laufen Deployments – mal schauen, ob der Testgegenstand funktioniert.“

Richtig spannend! Was passiert mit dem nächsten Klick? Wir haben schon alles erlebt: Testsysteme sind komplett, teilweise und vor allem spontan ausgefallen. Eben ging die Funktion noch, jetzt kommt eine Fehlermeldung. Wir versuchen dann stets das Beste aus der Situation zu machen und aus dem Interview mitzunehmen, werden aber irgendwann auch an Grenzen kommen. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir in solchen Situationen den Probanden auch vor Ende der regulären Interviewzeit entlassen.

6. „Das ist ein guter Proband.“

Ein guter Proband ist nicht derjenige, der den Testgegenstand lobt und/oder die Probleme am Testgegenstand bestätigt, die der Auftraggeber gerne hören möchte. Doch was ist ein guter Proband stattdessen? Er ist aufmerksam, denkt laut und reflektiert das Gesehene/Erlebte, kann gut wiedergeben, was er gut fand und was ihn gestört hat und warum.

7. „Das ist ein schlechter Proband.“

Wir erklären dem Probanden zu Beginn des Usability-Tests, dass er nichts falsch machen kann. Und so ist es auch tatsächlich. Allerdings fällt die Beobachtung von Probanden, die sich offensichtlich mit dem Testgegenstand schwertun und „in jede Falle“ tappen, Usability-Test-Zuschauern durchaus schwer, kann anstrengend sein und Nerven kosten. Doch nur weil ein Proband das Konzept nicht versteht oder schlecht bewertet, ist er kein schlechter bzw. unpassender Proband.

Natürlich hört es keiner gerne, wenn das „eigene Baby“ hässlich genannt wird. Aber machen Sie sich frei von den eigenen Vorstellungen und vor allem auch von dem persönlichen Involvement zum Projekt. Werten Sie den Probanden nicht ab – sondern schauen Sie genau hin: Hier können Sie viel beobachten und lernen. Und darum geht es ja – so viele Erkenntnisse für „das eigene Baby“ mitnehmen, um es noch besser zu machen.

8. „Nach jahrelanger Entwicklung sind wir nun fertig und präsentieren den Testgegenstand in zwei Wochen auf der Messe. Jetzt wollen wir das Usability-technisch kurz überprüfen lassen und letzte Quick Wins einfließen lassen.“

Plumps… haben Sie auch das Kind in den Brunnen fallen gehört? Hier ist der Prozess des User-Centered-Designs nicht richtig verstanden worden. Produkte sollen iterativ verbessert werden. Das beginnt schon bei der Anforderungsanalyse. Binden Sie uns UX Consultants so früh wie möglich in den Entwicklungsprozess ein. Verankern Sie Prozesse und Methoden des UCD-Lifecycles nach ISO 9241-210 fest in Ihre Unternehmensstrukturen, so dass Produkte von Grund auf für die Zielgruppe entwickelt werden.

9. „Unsere Agentur hat das schon hübsch gemacht.“

Das schönste und modernste Design alleine nutzt nichts – die Funktionalität bzw. der Nutzen muss gegeben sein. Der Einsatz von nutzerzentrierten Methoden ist auch bei erfahrenen Agenturen unerlässlich, denn nur so können Sie von Ihrer Zielgruppe lernen und ihr Produkt stetig verbessern.

10. „Der Prototyp kann so nicht in den Test gehen: Die Farben und Schriften stimmen nicht 100%ig mit unserem Corporate Design überein.“

Pixel-perfekt? Gar nicht nötig! Sparen Sie Ressourcen und damit Zeit und Geld, indem Sie Aufwände für Reinzeichnungen minimieren (diese sind im Anschluss eines Tests nämlich oft hinfällig). Vertrauen Sie uns: Auch Produkte in frühen Entwicklungsphasen liefern gute Erkenntnisse, z. B. für die Bereiche Wording, Interaktion, Verständnis und ob das mentale Modell der Nutzer mit der Konzeption übereinstimmt. Darüber hinaus ergeben Low-Fidelity-Prototypen auch methodisch Sinn: Ein „unfertiger“ Prototyp bietet den Probanden mehr Raum für Interpretationen und Ideen des Produktes.

11. „Wir kennen unsere Zielgruppe bestens – unser Sales/Marketing/Service-Department steht ganz eng im Kontakt mit ihnen.“

Hier ist Vorsicht geboten. Denken Sie einmal darüber nach, mit wem Ihre Kollegen sprechen. Das sind meistens eher Abteilungsleiter oder Manager und nicht die tatsächlichen Endanwender. Auch die Service-Abteilung sammelt meistens nur Nutzer-Feedback und hakt nicht offen und aktiv bei diesen nach. Die Aussagen sind daher genau zu prüfen und es wäre fatal, sich nur auf diese zu verlassen. Zu Bedenken ist immer: Die Gefahr ist groß, an den Bedürfnissen der „echten“ Zielgruppe und somit am Markt vorbeizugehen.

12. „Damit werden wir keine Design-Preise gewinnen.“

Wollen wir auch gar nicht! Das Verständnis des Produkts mit dessen Funktionalitäten steht bei uns an erster Stelle. Deswegen nennt man uns auch den „Anwalt des Nutzers“. Dennoch geht es bei UX natürlich immer auch um die bestmögliche Schnittmenge aus User Needs und Business Goals. Usability ist die notwendige Basis, auf der alle nachfolgenden technischen Restriktionen und Möglichkeiten, den Anforderungen und Wünschen der Zielgruppe und den Businesszielen des Auftraggebers gerecht zu werden, basieren. Am Ende steht eine ganzheitliche User Experience, die bestenfalls auch eine tolle visuelle Anmutung hat – dann steht dem Design-Preis nichts mehr im Wege.

13. „Der Nutzer soll das Ganze gar nicht richtig verstehen, er soll es nur kaufen.“

Dem Nutzer muss klar sein, welche Verpflichtungen er mit einem Vertrag eingeht. Gestalten Sie Ihre Prozesse so transparent wie möglich. Darüber hinaus endet User Experience nicht mit dem Kauf Ihres Produkts, sondern erst, wenn dessen Lebensdauer erreicht ist. Alle Touchpoints des Nutzers sollten im Blick behalten werden. Es geht z. B. nicht darum, die Abschlussstrecke einer Versicherung möglichst gebrauchstauglich zu gestalten und alle Stolpersteine zum Abschluss aus dem Weg zu räumen und den Nutzer anschließend bei Problemen oder Fragen zum/mit dem Produkt alleine zu lassen. User Experience ist eine langfristige Vision sowie Produktqualität und eben keine „schnelle Nummer“.

14. „Unsere Persona muss Marketing-tauglich sein.“

Ziel von Personas ist es, dass sich Mitarbeiter leichter in den Nutzer hineinversetzen können und die Zielgruppe im gesamten Entwicklungsprozess eines Produktes mit einbeziehen. Eine möglichst realistische und glaubwürdige Darstellung unterstützt dies. So sollte eine Persona für ein Plus-Size-Modelabel ebenfalls Konfektionsgröße 46 tragen und keine 36. Und Menschen über sechzig Jahren sollten auch nicht aussehen, als wären sie vierzig. Wir konzipieren für echte Menschen.

15. „Unsere Personas werden im Unternehmen nicht gelebt.“

So viel Geld und Zeit investiert und dann sowas: Sehr schade! Die Gründe dafür können vielfältig sein: Die Persona deckt nicht die richtigen Fragestellungen ab, ist nicht realistisch dargestellt (siehe vorheriger Punkt) oder wird im Unternehmen nicht richtig kommuniziert. Preisen Sie Ihre Persona z. B. in Workshops an, stellen Sie diese im Unternehmens-Blog vor oder bestellen Sie lebensgroße Pappaufsteller. 

Genauso fatal ist es allerdings, wenn Personas die „Grundlage“ fehlt, da sie nicht durch Research ermittelt wurden. Denn dann sind sie schlichtweg falsch: Bei Entscheidungen, die auf Basis dieser Personas getroffen werden (z. B. Business- oder Designentscheidungen), ist die Gefahr groß, an den Bedürfnissen der „echten“ Zielgruppe und am Markt vorbeizugehen.

16. „Die Teilnahme an unserer Studie ist etwas Exklusives, da die Probanden visionäre Einblicke in unsere Produkte erhalten. Da müssen wir ihnen doch nichts dafür bezahlen.“

Natürlich nehmen die Probanden gerne an Interviews, Fokusgruppen oder Workshops teil und sind sicherlich auch neugierig, etwas über zukünftige Produkte, Funktionen oder Konzepte zu erfahren – und für so manchen Probanden ist es bestimmt auch eine Ehre, seinen Beitrag zu einem beliebten Produkt zu leisten. Doch man muss sich vor Augen führen: Die geladenen Personen aus der Zielgruppe nehmen sich Zeit für die Studie und haben wertvolle Informationen für die Auftraggeber, mit denen diese ihre (Business-) Ziele erreichen. Dies sollte unbedingt wertgeschätzt und honoriert werden. Auf den ganzen Entwicklungsprozess bezogen, handelt es sich hierbei um Peanuts. Riskieren Sie hier keine hohe No-Show-Quote, so dass die Tests wiederholt werden müssen.

17. „Wir brauchen kein User Testing/UX Research. Wir haben vor kurzem drei UX-/UI-Designer eingestellt.“

Alleine die Begrifflichkeit UX/UI lässt uns stutzen und führt allein schon zu Gänsehaut. Überlegen wir einmal, welche Eigenschaften die Mitarbeiter mitbringen müssen, um diesen hohen Anforderungen gerecht zu werden (Spoiler: Solche Über-Menschen gibt es nicht): Sie müssen total empathisch sein, die User Needs inhalieren, genial konzeptionieren können, die Business Goals verstehen, dazu noch begnadete Grafikdesigner sein und am besten das Ganze auch noch coden können. Unsere Erfahrung zeigt uns, dass es diese eierlegende Wollmilchsau nicht gibt.Abgesehen davon ist UX Design und User-Centered Design grundlegend NICHT ohne Nutzer möglich – das gehört einfach dazu.

PS: Der UX-Designer ist in 99,9 % aller Fälle nicht der Nutzer.

18. „Am Ende macht es UI dann hübsch.“

Achtung! UX ist nicht gleichzusetzen mit UI Design. Der Wow-Effekt des Produktes kommt am Ende nicht mittels einer besonderen visuellen Ausgestaltung. Das Produkt/Interface oder auch der Service an sich muss ein geniales und ganzheitliches Nutzererlebnis bieten, was die Bedürfnisse und Anforderungen der Zielgruppe bedient. Um das zu erreichen, fängt es schon mit der Durchführung einer Anforderungsanalyse an, aus der Nutzungsanforderungen abgeleitet werden und anschließend Gestaltungslösungen (wichtig: Mehrzahl!) konzipiert und getestet werden. Erst ganz zum Schluss kommt das finale visuelle Design.

19. „Wir haben ein neues UI-Konzept für unsere komplexe Fluglotsen- Software* entwickelt. Können Sie kurz expertenbasiert mit Ihrer UX-Brille drüberschauen?“

Ja klar, das können wir, aber alles was über Usability Basics und Guidelines hinausgeht, wird, ehrlich gesagt, schwierig. Die Zielgruppe ist in diesem Fall recht exotisch: Wir UX-Experten benötigen Vorwissen über die Zielgruppe, den Nutzungskontext und die aktuell verwendete Software bzw. deren Handhabung. Um sicherzugehen, dass die Software die Fluglotsen* in ihrer Arbeit optimal unterstützt und keine Probleme verursacht werden, ist hier die Beobachtung echter Anwender direkt im Feld das Mittel zur Wahl.

*Dient hier nur als Beispiel für eine große Vielzahl zielgruppenspezifischer Anwendungen.

20. „Wir brauchen die Ergebnisse in zwei Wochen.“

Ganz gleich, welche die Methode der Wahl ist, Research, Testing etc., innerhalb von zwei Wochen ist viel möglich. Mehr Zeit zu haben, schadet aber auf keinen Fall! Denken Sie nur einmal an die Rekrutierung von Probanden. Je nach Inzidenz nimmt dies mehr Zeit in Anspruch. Wir geben immer alles! Das UX-Team steht in den Startlöchern: Alle Vorbereitungen und die Rekrutierung sind abgeschlossen. Und dann fällt auf einmal auf, dass der Testgegenstand nicht fertig wird/wurde. Der Auftraggeber hat sich mit der Projektplanung übernommen.

Wir UXler unterstützen Sie gerne, damit die Ziele erreicht werden. Das geht aber nur dann, wenn UX von Beginn an im Projektplan verankert und vor allem Budget mitgebracht wurde.

21. „Wir entwickeln komplett agil in zweiwöchigen Sprints. Es ist unmöglich, dabei User Research & Testing zu betreiben. Das kostet uns einfach zu viel Zeit und wir verlieren Speed.“

Das ist alles eine Sache der Planung. Wenn alles bereits vorgedacht und geklärt ist, wo kurzfristig Probanden rekrutiert werden können und wie das User Testing (Ort, Tools, Mitarbeiter) umgesetzt werden kann, gibt es keine Ausreden mehr. Die Aussage zeigt zudem auch, dass das UX-Mindset bzw. die UX-Reife im Unternehmen noch nicht hoch ist und UX noch strategisch im Entwicklungsprozess bzw. im Unternehmen verankert werden muss: Das dauert seine Zeit, bis Prozesse verankert sind und sich eine Kultur entwickelt. Darüber hinaus braucht es Commitment und Budget (von oben). 

Da wir gerade beim Thema sind: Haben Sie schon einmal über Research im Sinne von Sprints nachgedacht? Es ergibt durchaus Sinn, seine Vision vorab zu konzipieren und zu evaluieren, bevor das Team (ggf. in die falsche Richtung) losläuft und dies erst nach ein paar Runden merkt.

 

Welche Aussagen bringen Sie zur Weißglut? Haben Sie weitere Themen, zu denen Sie sich Anekdoten wünschen?